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06.10.2020
Fans

Am Anfang stand der Adler

Geboren und wohnhaft in Wittenberge weiß Enrico-André Bezdicek aus persönlichster Erfahrung, was sich mit der Wiedervereinigung sportlich wie gesellschaftlich geändert hat – und was nicht.

Als Enrico-André Bezdicek sein erstes Eintracht-Spiel besuchte, ging er auf die 27 Jahre zu. Wahrlich kein Alter, aber aus heutiger Sicht, wenn der erste Stadionbesuch des Sohns mit dem Papa als Klassiker gilt, doch vergleichsweise spät. Aber wie sollte es im März 1992 auch anders möglich sein. Erst anderthalb Jahre gab es die Mauer nicht mehr, die nicht nur die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratisch Republik trennte, sondern in diesem Zuge auch die Bundesliga von der DDR-Oberliga. Es war ein Vierteljahrhundert die einzige Grenze, die Bezdicek für seine Eintracht nicht überwinden konnte. Doch von vorn.

Idol aus Österreich: Bruno Pezzey (l.).

In Zeiten der Teilung gab es für die meisten, überwiegend männliche, ostdeutschen Bürger gewissermaßen zwei Lieblingsvereine, wie der heute 55-jährige Bezdicek erklärt: „Einen aus der DDR-Oberliga, einen aus der Bundesliga. Während die meisten meiner Klassenkameraden mit dem Hamburger SV oder Borussia Mönchengladbach mitfieberten, war ich bereits als Neunjähriger Eintracht-Fan.“ Eine Liebe, die Enrico schon in der Schule mehr Ärger als Bewunderung einbrachte. Als ihm seine Tante zum Geburtstag einen Adlersticker schenkte, hatte dies mehr mit deren Herkunftsland Österreich denn mit dem Traditionsverein aus Hessen zu tun. Enrico war’s einerlei. „Der Adler als Wappen von Wittenberge, meiner Heimat Brandenburg und auch Österreichs, aus dem mein Idol Bruno Pezzey herkam – die Verbindung zur Eintracht war zementiert.“ Und der Adler bald auf der Jeansjacke. Schon wenige Unterrichtsstunden später musste Enrico zum Rapport erscheinen. „Westliche Symbole waren nicht gern gesehen, das ging schon bei Aldi-Tüten los. Die Lehrer argumentierten, das würde imperialistisches Gedankengut verkörpern, was natürlich haltlos war.“ Unzählige Diskussionsrunden später, „ich glaube, ich habe dahingehend argumentiert, dass die Schweiz in diese Hinsicht neutral und Österreich es ebenso war“, bekam der Revoluzzer wider Wissen Recht. Nicht zum letzten Mal.

13.30 Uhr Oberliga, 15.30 Uhr Bundesliga

Fan von klein auf dank Grabowski und Hölzenbein.

Dem gelernten Chemiemeister, Flugzeugmechaniker und Kaufmann für Dialogmarketing hatte es nämlich nicht der Adler allein angetan. „Die Farben meines Jugendklubs BSG Lok Wittenberge [heute ESV 1888 Wittenberge; Anm. d. Red.] waren Rot-Schwarz.“ Und für Bezdicek nicht weniger faszinierend wie die Weltmeisterschaft 1974: „Grabowski und Hölzenbein spielen zu sehen, bleibt unvergessen.“ Genau wie der UEFA-Cup-Gewinn der SGE sechs Jahre darauf. Angefangen beim Halbfinal-Drama gegen den FC Bayern, wovon Bezdicek jedoch kaum die Hälfte mitbekommen hat. Das Hinspiel hörte Bezdicek heimlich spätabends im Kinderzimmer. Von der Mutter war Bettruhe verordnet, also behalf er sich mit einem Taschenradio unter der Bettdecke. „Das ging so lange gut, bis ich in einer Szene meine Emotionen nicht mehr im Zaum halten konnte, aufschrie und erwischt wurde.“ Das Erlebnis war ernüchternd, das Ergebnis mit 0:2 enttäuschend und der Hohn der Klassenkameraden am nächsten Tag gewiss. Die Ironie der Geschichte: Vom fulminanten 5:1 im Rückspiel „erfuhr ich erst, als ich morgens das Klassenzimmer betrat, mich alle schweigend ansahen und irgendwann aufklärten. Denen hatte ich’s gezeigt“, freut sich Bezdicek noch heute wie der Teenager, der er damals war.

Die Anekdote sagt einiges über die seinerzeitige Informationsfreiheit aus. Zu lesen gab es die noch heute erhältliche Fußballwoche (FuWo). Zu sehen – oder besser nicht sehen – DDR1 und DDR2. Dafür abends die ARD-Sportschau mit Heribert Faßbender und später das aktuelle sportstudio, Torwandschießen „und mit etwas Glück war einer von der Eintracht zu Gast. Mein wöchentliches Highlight!“ Wer es live wollte, hörte Radio. Ab 13.30 Uhr DDR-Oberliga, zwei Stunden später die Bundesligakonferenz. Auch letztere beinahe mit schwerwiegenden Folgen. Zwischen 1985 und 1987 war Bezdicek mit der Nationalen Volksarmee in Forst in der Lausitz stationiert. „Ich war unbequem, musste mehrmals in den Knast, weil ich in Zivil statt Uniform unterwegs war“, räumt Bezdicek ein.

„Tor im Stuttgarter Neckarstadion!“

Manchmal tat es auch eine Ausgangssperre. „Meine Zimmergenossen waren unterwegs, ich allein auf dem Zimmer und habe samstagnachmittags Westfunk gehört“, lässt Bezdicek schon Böses erahnen. „Ich war so vertieft in die Berichterstattung, dass ich nicht mitbekommen habe, dass plötzlich der wachhabende Hauptmann im Raum stand. Als er die Stadiongeräusche hörte, wollte er eigentlich nur wissen, wie es in Dresden stehe.“ Die Antwort gab gewissermaßen der Radioreporter: „Tor im Stuttgarter Neckarstadion!“ Dass Bezdicek letztlich mit einem hellblauen Auge davonkam, „lag wohl daran, dass der Offizier mal wieder während des Dienstes einen über den Durst getrunken hatte...“

Bezdicek engagiert sich beim EFC Adler Berlin.

Überhaupt war dem Brandenburger beim Vorhaben, seiner Eintracht nahe zu sein, fast jedes Mittel recht. „Um meine Tante in Österreich besuchen zu dürfen, musste mein Vater immer aufs Konsulat. Uns als DDR-Bürgern war es nicht gestattet, die Botschaft zu betreten, deshalb gab es eine Art Aufenthaltsraum.“ Dort lagen allerhand westlicher Zeitungen. „Die habe ich mir geluchst, war auch nicht ungefährlich“, schmunzelt Bezdicek.

Premiere in Nürnberg

Dann kam die Wende, im wahrsten Wortsinn. Als eine der ersten Amtshandlungen als freier Bürger in einem freien Staat „kaufte ich von den 100 Mark Willkommensgeld neben Geschenken für meine damalige Frau und erste Tochter erstmal den kicker, die Sport Bild – einfach alles, was es an Sportzeitschriften gab“, berichtet Bezdicek mit leuchtenden Augen. Doch aus dem Strahlen kommt der passionierte Autogrammkartensammler, der mittlerweile über 700 verschiedene Motive besitzt, erst gar nicht mehr heraus, wenn er über sein erstes Eintracht-Spiel im Stadion spricht. Nicht in einem der neuen Bundesländer, auch nicht in Frankfurt, sondern in Nürnberg.

Zeitlebens verfolgt: Ervin Skela (l.), Manfred Binz (r.) und viele mehr.

„Ich sollte zum Reisebusfahrer angelernt werden und habe die erste mehrtägige Tour nach Burgkunstadt als Beifahrer absolviert.“ Während sich die Reisegäste in Oberfranken tagsüber mit Einkaufen und abends an der Hotelbar vergnügten, „habe ich zu meinem Kollegen gesagt, ich würde die Eintracht sehen wollen. Er entgegnete: ‚Klar, die haben hier einen Fernsehraum.‘ Doch ich wollte ins Stadion, das erste Mal die Eintracht mit eigenen Augen sehen Also holte ich mir spontan einen Leihwagen und fuhr nach Nürnberg.“ Der Vorfreude wich jedoch schnell Verblüffung. „Ein ausverkauftes Stadion, das war ich aus der Heimat nicht gewohnt, damit hätte ich nicht gerechnet.“ Doch von Resignation keine Spur. „Ich bin zum nächsten Schwarzmarkthändler, er forderte 150 Mark – ich hatte 15. Das war’s, dachte ich. Doch als der Mann hörte, dass ich berlinerte, wurde er neugierig. Ich erzählte ihm meine Geschichte, er bekam wohl Mitleid und verkaufte mir das Ticket zum Einkaufspreis.“ Und Bezdicek wurde Augenzeuge, wie Stein, Möller, Yeboah und Co. 3:1 gewannen. Das zweite Spiel, wieder in der Fremde, war dann ausgerechnet das Trauma von Rostock... Unzählige weitere Besuche folgten. Bis heute.

Deutscher Meister 1958

Entsprechend ist Bezdicek der Wandel der Zeit nicht entgangen. „Sich jedes Jahr das neue Trikot zu kaufen war früher nicht üblich. Wir hatten unsere Kutte, auf der sich nach und nach Sticker angesammelt haben“, bemerkt Bezdicek und möchte dies ausdrücklich nicht als nostalgische Nörgelei, sondern als Feststellung verstanden wissen. Schließlich weiß er aus eigener Erfahrung, wie schwer es einst war, an Fanartikel zu kommen. Aber nicht unmöglich. Nach dem Europapokaltriumph nach Polen gereist, „wollte ich mir von meinem bisschen Taschengeld einen Eintracht-Wimpel kaufen. War aber schweineteuer.“ Doch da gab es ja noch diesen Gebirgsbach, in den die Menschen so bereitwillig ihre Münzen geworfen haben. Also behalf sich Bezdicek mit einem langen Stock und verbogenen Löffel und kratzte am Ende des Tages sprichwörtlich genügend Münzen zusammen, um die notwendigen umgerechnet 50 bis 60 Ostmark aufzubringen.

Die Geschichte wird noch richtig Fahrt aufnehmen.

Enrico-André Bezdicek

Eine Investition mit Schönheitsfleck: „Deutscher Meister 1958 stand dort geschrieben, ich habe geflucht – aber es war nun damals das einzige Utensil, das ich mir an die Wand hängen konnte. Nach der Wende habe ich es schnell ausgetauscht“, blickt der Zeitzeuge mit Humor auf den Fauxpas zurück. So wie er überhaupt den meisten Entwicklungen Gutes abgewinnt. „Die DDR-Regierung hat überwiegend Einzelsportarten unterstützt“, reißt Bezdicek die aufgedeckten systemstaatlichen Dopingvergehen an. „Das ist in Mannschaftssportarten in diesem Maße nicht möglich, entsprechend hat die Regierung Nationalmannschaften und Vereine stiefmütterlich behandelt. Vereine im eigentlichen Sinne gab es nur wenige, viele gehörten zu Industrieunternehmen.“ Von Randsportarten ganz zu schweigen. „Die Eishockeyliga bestand aus zwei Vereinen: Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser – und Berlin hat meistens gewonnen.“

Mit Alexander Schur im Museum.

Nicht viel anders verhielt es sich mit dem Frauenfußball oder generell dem Fußballpublikum, dessen Kultivierung Bezdicek überspitzt mit „vom Bauernsport zum Social Event“ formuliert. Auch das ist ein Grund, weshalb Bezdicek, von der ersten Stunde Fördermitglied des Eintracht Frankfurt Museums, angesichts der Fusion von Eintracht mit dem 1. FFC Frankfurt im Juli ein Herz aufgeht. „Wenn ich sehe, wie eine Laura Freigang die Bälle in den Winkel schlenzt – das kriegen Männer nicht besser hin“, zeigt sich das Mitglied der EFC Adler Berlin auf der Höhe des Geschehens und ist sich sicher: „Die Geschichte wird noch richtig Fahrt aufnehmen.“ Nicht als einzige: „Als ich 2003 Eintracht-Mitglied wurde, waren es etwa 4.100. Jetzt steuern wir auf die 100.000 zu, sind der 20.-größte Verein der Welt!“ Dass Grenzen nur im Kopf existieren, hat Enrico-André Bezdicek selbst schließlich oft genug unter Beweis gestellt.