Den Gesichtsausdruck sehe ich noch vor mir, obwohl das Jahrzehnte her ist. Diese Mischung aus Arroganz und demonstrierter Langeweile. Hellrote Haare hatte er, und gerade das 11:0 gemacht. Gegen uns natürlich. Was keine wirkliche Überraschung war, denn er kickte in der D2-Jugendmannschaft von Kickers Offenbach und ich in der D4 der Spvgg. Neu-Isenburg. Er war, wie die meisten seiner Mitspieler, athletisch, ziemlich groß und ausgestattet mit beachtlicher Technik plus strammem Schuss. Ich war, wie die meisten meiner Mitspieler, eher pummelig und klein.
Zur Erklärung: Nicht alle Vereine im Rhein-Main-Gebiet verfügten seinerzeit über D3- oder D4-Teams. Viele hielten es für effizienter, sich nur um die wirklich talentierten Spieler zu kümmern und perspektivlose Speckbubis wie mich gar nicht erst aufzunehmen. Also steckte man die paar wenigen D4-Mannschaften einfach in Ligen, in die sie vom Können her eigentlich nicht hingehörten. Was – aus unserer Sicht – zu regelmäßigen zweistelligen Klatschen führte. Eigentlich erstaunlich, dass ich nach dieser Zeit nie Vegetarier geworden bin, wo ich doch Wochenende für Wochenende erlebt habe, wie es sich anfühlt, auf die Schlachtbank geführt zu werden.
Als Grabowski Overath ausstach
Aber auch kleine, dicke Möchtegernkicker werden manchmal vom Schicksal an die Hand genommen. Nachdem ich nämlich dem Fußball aufgrund der geschilderten Demütigungen abgeschworen und es danach mit Handball, Basketball und sogar Tischtennis versucht hatte (dummerweise in einem Klub, in dessen Vereinsheim es die leckersten Bockwürste aller Zeiten gab, weshalb ich schnell noch dicker geworden war), hatte ich mit zwölf beschlossen, Sport nur noch passiv als Zuschauer zu betreiben.
Also guckte ich im Fernsehen so viele Sportereignisse wie nur möglich – und allen schmerzlichen Erinnerungen zum Trotz am liebsten Fußball. Ob das jetzt mit Masochismus oder Verdrängung zu tun hatte, kann ich heute nicht mehr sagen. Aber Tatsache war, dass ich nach einigen Monaten meine erste Lieblingsmannschaft ausgespäht hatte: den 1.FC Köln! Was sehr stark auch mit Wolfgang Overath zu tun hatte, den ich damals wahnsinnig bewunderte.
Aber dann kam dieser Tag, der alles verändern sollte. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Eintracht Frankfurt gegen meinen Lieblingsklub spielen würde. Da ich bis dahin noch nie im Waldstadion gewesen war, ja nicht mal wusste, wie man da überhaupt hinkommt, hatte ich Silly gefragt! Silly wohnte damals zwei Stockwerke über uns und hatte schon ein Auto. Da sie mich mochte und dazu auch noch ein lieber Mensch war, hatte sie sofort genickt... um mich ein paar Tage später vorm Stadion abzusetzen.
Ich weiß noch, dass ich ziemlichen Respekt vor allem hatte. Den vielen Menschen, dem Stadion, und auch dem Kauf meiner allerersten Eintrittskarte. Aber irgendwann war ich drin, und irgendwann begann auch das Spiel. Was für mich Auswirkungen größten Ausmaßes haben sollte. Denn auch wenn ich wegen Wolfgang Overath gekommen war, zog an diesem Tag ein ganz anderer Spieler meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Und das auch noch dummerweise im Trikot von Eintracht Frankfurt. Der nicht nur früh ein Tor schoss, sondern mich mit seiner Technik, seiner Leichtigkeit und seinen zelebrierten Flanken regelrecht hypnotisierte: Jürgen Grabowski!
Wenn die Eintracht in Wettbewerbssituationen gegen Klubs aus anderen Ländern spielt, fühlt sich das für mich immer so an, als würde ich in einem Lokal essen, in dem ich bis dahin noch nie war. Es schmeckt anders als das, was man kennt, ein bisschen ungewohnt, aber gleichzeitig außergewöhnlich und faszinierend!
Henni Nachtsheim
Um es abzukürzen: Im Lauf des Spiels kippte ich komplett und bejubelte schließlich jedes Grabi-Dribbling. Kaum war das Spiel, das übrigens 1:1 endete, rum, hing ich meinen FC-Schal an einen Zaun, und kaufte mir von meinem Taschengeld einen Eintracht-Wimpel. Böse Zungen nennen so etwas Opportunismus. Ich selbst nenne es lieber „den Glauben wechseln“! Als Katholik rein in den Tempel, als Buddhist wieder raus.
Tatsache ist jedenfalls, dass ich meiner Religion bis heute treu geblieben bin. Mittlerweile gehe ich seit über 50 Jahren zur Eintracht und bin in dieser Zeit mit diesem Verein alle Fußballachterbahnen gefahren, die es gibt. Ich bin vier Mal mit ihr ab- und wieder aufgestiegen, wir haben ein paar Mal den DFB-Pokal gewonnen, an einem beschissenen Samstagnachmittag in Rostock die Meisterschaft verpasst und mal die Bayern mit 6:0 und Werder Bremen mit 9:2 nach Hause geschickt.
Und wir haben den UEFA-Cup gewonnen! 1980 war das. Meine Kumpels und ich waren im Stadion, als Fred Schaub das Tor gemacht hat. Das war ein Megaabend damals. Das Spiel, der Sieg, dieser riesige Pokal, unsere Freudentränen und die bis ins Morgengrauen dauernde Fanfeier im „Schoppeklopper“ in Neu-Isenburg. Vor allem aber war es der krönende Abschluss dieses Wettbewerbs! In dem wir den FC Aberdeen, Dinamo Bukarest, Feyenoord Rotterdam, Zbrojovka Brünn und die Münchener Bayern besiegt hatten, bevor wir dann in zwei Endspielen Gladbach in die Knie gezwungen haben!
Schon damals galt, was auch heute noch gilt: Internationale Spiele sind für uns hier was Besonderes! Wenn die Eintracht in Wettbewerbssituationen gegen Klubs aus anderen Ländern spielt, fühlt sich das für mich immer so an, als würde ich in einem Lokal essen, in dem ich bis dahin noch nie war. Es schmeckt anders als das, was man kennt, ein bisschen ungewohnt, aber gleichzeitig außergewöhnlich und faszinierend!
Jetzt ist es wieder mal so weit. Die Eintracht steht (zu Recht) im Achtelfinale der Europa League gegen Betis Sevilla! Die aufgrund ihres sehr guten Tabellenplatzes in der spanischen Liga vermutlich Favorit sein dürften. Aber was heißt das schon? Eher nix! Warum? Weil an solchen Abenden die Uhren erfahrungsgemäß anders ticken, und Kriterien wie zum Beispiel die letzten Bundesligaspiele nicht wirklich greifen. Die einen nennen sowas „Eigendynamik eines Wettbewerbs“, die anderen „Magie“. Mir ist es vollkommen egal, warum die Eintracht so oft an solchen Tagen über sich hinauswächst. Von mir aus kann es auch mit Parapsychologie zu tun haben, mit Voodoo oder damit, dass der Fußballgott einen sitzen hat. Hauptsache, wir erleben gegen Sevilla wieder zwei magische Nächte! Ich glaub dran!
Euer Henni Nachtsheim
Zur Person
Geboren in Wuppertal und von klein auf aufgewachsen in Neu-Isenburg, erlangt Hendrik „Henni“ Nachtsheim zwischen 1978 und 1990 mit der Rockband Rodgau Monotones erste Berühmtheit. Langjährigen Erfolg hat der 64-Jährige unter anderem mit Gerd Knebel als das Comedy-Duo Badesalz. Nachtsheim gilt als bekennender Fan von Eintracht Frankfurt und schreibt Fußballkolumnen, aus denen bislang zwei Bücher entstanden sind.